Die Versicherungsbranche steht vor großen Herausforderungen: gestiegene Zinsen, hohe Schadeninflation und strengere regulatorische Vorgaben. Über die Bedeutung dieser Entwicklungen und die Rolle der Aktuare sowie der Aufsicht spricht Jens Reime, Fachanwalt für Versicherungsrecht, im Interview.
Herr Reime, die BaFin betont die robuste Lage der deutschen Versicherungsbranche, weist aber auch auf Risiken hin. Wie bewerten Sie die derzeitige Situation?
Die Versicherungsbranche steht trotz wirtschaftlicher und regulatorischer Herausforderungen solide da. Die gestiegenen Zinsen haben der Branche zunächst Aufwind gegeben, da sie höhere Kapitalerträge ermöglichen. Gleichzeitig sehen wir Risiken durch stille Lasten und potenzielle Abgangsverluste, sollten Versicherer Papiere vorzeitig verkaufen müssen. Ein effektives Liquiditätsmanagement ist hier entscheidend. Die BaFin hat recht, diesen Punkt zu betonen, denn ein starker Fokus auf Liquidität schützt letztlich die Versicherten.
Die Lebensversicherer mussten aufgrund der Zinswende Anpassungen vornehmen. Wie bewerten Sie die regulatorischen Eingriffe in diesem Bereich?
Die Neuberechnung des Rückstellungstransitionals und die Anhebung des Höchstrechnungszinses zeigen, dass die Aufsicht auf eine stabile Grundlage hinsteuert. Die Solvenzquoten sind gesunken, aber das war erwartet und zeigt, dass die Branche gut vorbereitet ist. Wichtig ist, dass Zinsgarantien im Neugeschäft nicht leichtfertig übernommen werden. Hier tragen die verantwortlichen Aktuare eine immense Verantwortung, Risiken realistisch zu bewerten und vorsichtig zu agieren.
Ein großes Thema sind auch die Herausforderungen durch die Schadeninflation. Welche Konsequenzen sehen Sie hier?
Die Schadeninflation belastet insbesondere die Schaden- und Unfallversicherer. Die Combined-Ratio ist gestiegen, und viele Unternehmen mussten ihre Schwankungsrückstellungen abbauen, um Verluste auszugleichen. Es ist unvermeidlich, dass die Versicherer Prämien erhöhen müssen, um langfristig rentabel zu bleiben. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Prämien risikogerecht differenziert werden. Einheitstarife, wie sie in der Diskussion um die Elementarschadenversicherung vorgeschlagen werden, halte ich für gefährlich, da sie den Grundsatz der Risikogerechtigkeit unterlaufen.
Die BaFin hebt auch die Bedeutung der Solvenzbewertung und der Proportionalität hervor. Was ist Ihre Meinung dazu?
Die Anpassungen im Rahmen des Solvency II-Reviews sind ein richtiger Schritt. Es geht darum, die Risikosensitivität zu stärken, ohne die Kapitalanforderungen aufzuweichen. Das Prinzip der Proportionalität erlaubt kleinen und weniger komplexen Unternehmen Erleichterungen, was sinnvoll ist, solange es risikoorientiert bleibt. Die Balance zwischen Flexibilität und Sicherheit ist hier entscheidend, um Vertrauen in die Branche zu wahren.
Künstliche Intelligenz (KI) wird zunehmend in der Versicherungswirtschaft eingesetzt. Welche Risiken und Chancen sehen Sie dabei?
KI bietet großes Potenzial, birgt aber auch Risiken, etwa in Bezug auf Diskriminierung oder Abhängigkeit von Drittanbietern. Die BaFin macht hier zurecht Druck: Versicherer müssen sicherstellen, dass KI-Systeme nachvollziehbar und kontrollierbar bleiben. Eine gute Governance und regelmäßige Prüfungen der Modelle sind unerlässlich, um die Integrität der Systeme zu gewährleisten. Der regulatorische Rahmen durch die neue KI-Verordnung wird hier zusätzliche Leitplanken setzen.
Die BaFin spricht auch von Wohlverhaltensaufsicht und fairen Produkten. Wie wichtig ist dieser Aspekt?
Sehr wichtig. Versicherer müssen sicherstellen, dass ihre Produkte einen klaren Kundennutzen bieten. Überhöhte Effektivkosten und unzureichende Renditeaussichten dürfen nicht die Regel sein. Hier sind nicht nur die Versicherer in der Pflicht, sondern auch die Aktuare, die eine Schlüsselrolle bei der Produktgestaltung spielen. Die BaFin fordert zu Recht, dass die Unternehmen ihre Prozesse kritisch hinterfragen und Kundenzufriedenheit stärker in den Fokus rücken.
Abschließend: Welche Rolle spielen Aktuare in dieser dynamischen Umgebung?
Ohne Aktuare geht nichts in der Versicherungswelt. Sie sind die Experten, die komplexe Risiken bewerten und für eine nachhaltige Tarifgestaltung sorgen. Ihre Verantwortung reicht über die technischen Berechnungen hinaus – sie tragen dazu bei, dass die Versicherer sowohl regulatorische als auch ethische Standards einhalten. Ihre Arbeit hat direkte Auswirkungen auf das Vertrauen der Verbraucher in die Branche.
Vielen Dank, Herr Reime, für das informative Gespräch.